Die verweigerte Antwort

 

Die verweigerte Antwort: Das Kindeswohl

 

Nach der Berufung auf Eltern, die sich die Sonderschule wünschen, wird als weiterer Kronzeuge für die Rechtfertigung von Sonderschulen das behinderte Kind selbst benannt: Es gehe um das Kindeswohl! Auch die UN-Behindertenrechtskonvention kennt diese Begründung. Der einschlägige Paragraph (Art. 7,2) lautet: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Das Wohl des Kindes mit einer Behinderung ist in der Tat der oberste Leitwert, der nicht zur Diskussion gestellt werden kann. Jede Entscheidung über einen Lernort muss sich immer vor diesem prioritären pädagogischen Prinzip verantworten können. Das Problem ist nicht die unantastbare Geltung des Prinzips, sondern seine Anwendung und Auslegung. Erstens wäre die Frage zu beantworten, wer eigentlich genau und sicher weiß, was bei einem Kind mit einer Behinderung das Wohl des Kindes ist. Und zweitens ist von erheblicher Bedeutung, wem die Kompetenz zugesprochen wird, letztlich zu entscheiden, was dem Wohle des Kindes dient. Und schließlich gilt es drittens zu bedenken, um wessen Kindeswohl es eigentlich geht, um das Wohl der behinderten Kinder oder um das Wohl der nichtbehinderten Kinder.

Sind die Eltern selbst die Experten für das behinderte Kind, weil sie es aus eigenem Erleben durch viele Jahre hindurch und in vielfältigen Lebenssituationen genau kennen? Oder sind die Sonderpädagogen kraft ihres professionellen Expertentums, der angeeigneten theoretischen Kenntnisse und der gediegenen Umgangserfahrungen in der beruflichen Praxis die besseren Experten? Experten sind sicherlich beide, Eltern wie Sonderpädagogen, aber wer hat zu guter Letzt das Sagen? Mit ausdrücklichem Bezug auf das Kindeswohl findet die Vorsitzende einer Elternvereinigung die Anmaßung, „dass der Staat besser als die Eltern weiß, wo die Kinder am besten aufgehoben sind“ (CDU-Abgeordnete Kastner) unerträglich. Kann und darf der Staat die ultimative Entscheidungskompetenz in jedem Fall den Eltern überantworten und sich außer einem beraterischem Beistand ganz aus der Verantwortung zurückziehen? Kann umgekehrt von den Eltern behinderter Kinder erwartet werden, dass sie die Entscheidung über die schulische Bildung vollends dem Staat überantworten und außer einer Anhörung das grundgesetzlich verbriefte Erziehungsrecht aus der Hand geben? Weder die Entmündigung des Staates noch die Entmündigung der Eltern ist tolerabel. Im Streit um das Kindeswohl hilft der fromme Rat zu einem einvernehmlichen Kompromiss nicht viel weiter, hier bedarf es handfester und handhabbarer Verfahrensregeln und -strukturen.

Das Kindeswohl-Argument ist wichtig und richtig, aber es löst leider kein Problem, sondern wirft im Gegenteil gravierende neue Fragen auf, die niemand unangreifbar und schlüssig beantworten kann. Das Kindeswohl-Argument gibt eine Antwort, die keine ist. Die Antwort auf die Frage „Sonderschule oder Inklusion?“ wird vertagt und letztlich verweigert.

Abschließend soll eine letzte Erwägung der bereits aufgeworfenen Frage gelten, ob es bei der Streitfrage um das Wohl der behinderten oder der nichtbehinderten Kinder geht. Natürlich immer um beiderlei Wohl, was denn sonst? So einfach liegen die Dinge aber häufig nicht. Es gibt durchaus Fälle, wo das Wohl des einen Kindes dem des anderen entgegensteht, wo das eine Kind das andere in seinem Wohlergehen und in seiner Entwicklung „behindert“. Muss dann dasjenige Kind, welches das andere Kind „behindert“ und ihm zu einer schwer erträglichen, kaum zumutbaren Last wird, das Feld räumen?

Alle Kinder haben das gleiche Recht auf eine volle und „ungehinderte“ Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Was ist nun im Konfliktfall, der „Behinderung“ von Kindern durch Kinder, zu tun? Nach herrschender juristischer Meinung endet das Recht eines jeden Kindes auf freie Persönlichkeitsentfaltung und auf Gemeinsamkeit mit anderen Kindern dort, wo die gleichen Rechte der anderen Kinder auf Persönlichkeitsentfaltung in nicht zumutbarer Weise eingeschränkt werden. Recht und Wohl des einen Kindes dürfen sich nicht in erheblichem Umfange gegen Recht und Wohl des anderen Kindes wenden. Freiheit und Würde des einen finden eine begründete Grenze in der Freiheit und Würde des anderen.

Es gibt unstrittig auch behinderte Kinder, die in schwerwiegender Weise andere Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigen können. In all diesen Fällen würde das „behindernde“ Kind seinen Rechtsanspruch auf Gemeinsamkeit und auf Inklusion verlieren. Im Konfliktfall wird es keine andere Lösung geben können. Die geschilderte Konfliktlösung ist bitter, aber unumgänglich.

Wenn also in der Diskussion um die Notwendigkeit besonderer Schutzräume darauf verwiesen wird, dass in extremen Fällen die Verbringung „behindernder“ Kinder in Schutzräume angezeigt ist, und zwar um ihrer selbst und um der anderen Kinder willen, dann wird zu Recht mit dem Wohl des Kindes argumentiert. Die ausdrückliche Anerkennung einer legitimen Argumentation wird hier aber mit einem zweifachen Vorbehalt verbunden.

Zunächst: Es gibt angeblich behinderte Kinder, die für andere, nicht behinderte Kinder „unzumutbar“ sind. Aber wie und warum können dann diese „unzumutbaren“ Kinder anderen behinderten Kindern in Sondereinrichtungen zugemutet werden?

Sodann eine eindringliche und besorgte Warnung. Jene Extremfälle, die hier diskutiert werden, sind von einer außerordentlichen Seltenheit. Es ist wäre fatal, wenn in fahrlässiger Leichtfertigkeit im öffentlichen Diskurs immer wieder die schwersten Fälle in abschreckender Form gleichsam als Monster geschildert werden und zugleich der unausgesprochene Eindruck erzeugt wird, derartige schwerste Fälle seien eben keine Seltenheit. Eine derartige Argumentationsstrategie dient und bezweckt nichts anderes als Abschreckung. Solche Abschreckungsfeldzüge musste ich leider häufiger erleben; sie sind perfide und instrumentalisieren die schweren Fälle in unaufrichtiger und wahrheitswidriger Weise für die Legitimation des Sonderschuldogmas.

Geschichtlich wurde die Einrichtung von Sonderschulen immer schon mit der Entlastungsfunktion begründet. In Verbindung mit der sozialdarwinistischen Lehre wurde im Nationalsozialismus aus der Entlastungsfunktion unversehens die Ballasthypothese. Demnach sind Behinderte Ballastexistenzen, die es auszumerzen gilt. Weil dieser Entlastungs- und Belastungsgedanke weit verbreitet und tief verwurzelt ist, könnte er durch die beschriebene Abschreckungsstrategie wieder zu neuem Leben erwachen. Wer in der Auseinandersetzung um Inklusion auf Abschreckung setzt, wird – so ist zu befürchten – Zustimmung finden, aber um den Preis der definitiven Abspaltung Behinderter aus der Gemeinsamkeit und der Mitmenschlichkeit. Das können nicht einmal die Widersacher der Inklusion wirklich wollen.

Quelle: http://www.das-parlament.de/2010/23/Beilage/005.html

 
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