Gasthaus des Lernens

 

Ein Gasthaus des Lernens

 von Reinhard Kahl  16. Juni 2010

 Die Sophie-Scholl-Schule zeigt der Republik, wie die Individualisierung des Lernens geht, und bekommt dafür den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises.

Frau Loesing will jetzt eine Schule gründen, in Ostfriesland. Dort betreibt ihre Familie einen Hof mit 120 Kühen und genau so vielen Schafen. Die vergangenen Jahre musste sie die Landwirtschaft in Pogum an der Ems dem Mann und den Schwiegereltern überlassen, weil sie ihren Sohn zu einer Schule am anderen Ende der Republik begleitet hatte, nach Oberjoch, dem höchsten Bergdorf in Deutschland.

1200 Meter über dem Meeresspiegel liegt eine Rehaklinik, für Kinder und Jugendliche, die an Asthma, Allergien, Neurodermitis oder Adipositas leiden. Während der Kur besuchen sie die zur Klinik gehörende Sophie-Scholl-Schule. Das dauert gewöhnlich vier bis acht Wochen. Außerdem gibt es eine Handvoll sogenannter Langzeitschüler, die bleiben mehrere Jahre und machen dort auch ihren Schulabschluss. Das hört sich nicht besonders spektakulär an. Aber ihrem Sohn Peter, der jetzt elf ist, habe diese Schule das Leben gerettet. Es war die Schule, nicht das Krankenhaus, sagt Dagmar Loesing. Das sei ein Wunder. Und weil dort in kurzer Zeit auch andere Kinder aufblühen und große Erfolge beim Lernen erzielen, entschloss sich die Jury des Deutschen Schulpreises, dass die Sophie-Scholl-Schule am 9. Juni 2010 in Berlin den Hauptpreis aus der Hand von Angela Merkel überreicht bekommt.

Es ist eine kleine Schule für 200 Kinder und Jugendliche. Elf Lehrer unterrichten die Schüler, vom Erstklässler bis zum Abiturienten. Zu Hause sind es brave Schüler, Schulverweigerer oder Ãœberflieger. Sie sind Grundschüler, Realschüler, Hauptschüler, Berufschüler und Gymnasiasten. Sie kommen aus allen Bundesländern. In Oberjoch gehen sie in gemeinsame Klassen. Hier ist für sie fast alles anders, oder  - wie Dagmar Loesing meint - „alles ist so wunderbar normal, es ist keine Anstalt“. Die Klassen sind auch vom Alter her gemischt. Eine Schule, wie sie von den meisten Menschen in Deutschland nicht für möglich gehalten wird, oder zumindest für hoffnungslos ineffektiv. „Es geht,“ sagt  das Jury Mitglied Professor Michael Schratz aus Innsbruck, „und wie gut gemeinsamer Unterricht von Hochbegabten und Lernbehinderten geht, davon konnten wir uns überzeugen.“ Schratz ist einer der führenden Erziehungswissenschaftler in Österreich. Er kennt gute Schulen in aller Welt, aber so eine einladende Atmosphäre, sagt er, „so herausfordernd, nie einschüchternd und so erfolgreich“, das hat ihn überrascht und begeistert. Na ja, zweifelt erstmal der Besucher, es ist ja nur für ein paar Wochen, vielleicht kein Kunststück für eine Art Ferienschule?

Jeden zweiten Donnerstag kommen die Neuen, um ihre Kur anzutreten. Es beginnt mit einem vorbereiteten Ritual. Die von der Heimatschule präparierten Ranzen und Rucksäcke werden im Flur vor dem Lehrerzimmer abgestellt. Darin sind Berichte über die Schüler und über den aktuellen Stoff, Hefte und Schulbücher. Übers Wochenende wird das alles von einem Lehrerteam studiert. Für jeden Schüler wird ein Wochenplan erstellt. Dabei haben die Pädagogen ein Verfahren entwickelt, wodurch die jeweiligen Klassenlehrer möglichst nicht erfahren, von welcher Schulart die Neuen kommen. Aber über die Schüler, über die Person, wollen sie möglichst viel wissen. Dabei sind die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule immer wieder überrascht, wie wenig die Kollegen der Heimatschulen die häufig seit Jahren von ihnen unterrichteten Schüler kennen. Manche Spalte auf dem von der Sophie-Scholl-Schule verschickten Fragebogen bleibt leer. So gibt es selten Auskunft über das Hörvermögen und dessen eventuelle Beeinträchtigungen. Stattdessen steht da zum Beispiel „Bin ich vielleicht der Arzt?“ An solchen Kleinigkeiten dämmert, womit die „Individualisierung des Lernens“ beginnt: Erst mal die Schüler wahrnehmen, sie kennenlernen, sich für sie interessieren. Dafür hat die Sophie-Scholl-Schule allerdings wenig Zeit. Die Kinder sind ja nur Gäste. Aber aus dieser Not hat die Schule ihre Tugend gemacht. Sie ist ein Gasthaus des Lernens geworden.

Am Montag finden sich die Neuen inmitten der schoneingespielten Gesellschaft von Kindern und Jugendlichen, die schon wissen, wie es hier läuft. Jeder arbeitet morgens für sich an seinen Aufgaben. Wer nicht weiter weiß, geht nicht zum Lehrer, sondern sucht erst mal Hilfe bei anderen Kindern. Die Lehrer halten sich zurück. Das führt in den ersten Tagen regelmäßig zu Beschwerden, erzählt die Schulleiterin Angela Dombrowski. Schüler beklagen sich, dass die Lehrer nicht arbeiten, aber sie selbst dafür so viel arbeiten müssten. Auf die freie Arbeit folgen Projekte, zum Beispiel Chinesisch. Alles ist da erst mal für alle neu. Mit der Lehrerin Susanne Pöhlmann werden Wörter geübt. Das ist schwer. Aber die Regeln der Grammatik, sind einfach. Weisheiten von Konfuzius werden studiert. Und plötzlich kommt Neugierde auf. Bei allen. Wenn auch nicht bei allen sofort. Kinder sieht man in diesem leicht beschleunigten Hüpflauf, der untrüglich Begeisterung anzeigt. Auch das Englische wird bei einigen ins Chinaprojekt einbezogen. In einem Rollenspiel mit einem anderen Schüler trägt ein Junge auf Englisch seine Bewerbung bei Microsoft in Shanghai vor. Darauf hat er sich zwei Tage vorbereitet. Auf die freie Arbeit folgen ein Theaterprojekt und Übungen im sogenannten „Sozialparcour“, bei dem sich die Neuen kennenlernen und alle mit allen, auch mit denen, die man nicht mag, kooperieren. Dabei müssen immerzu Schüler den Unterricht zu Anwendungen in der Klinik verlassen. Aber sobald sie zurück kommen, geht es weiter. Die Kinder werden in den Tagen und Wochen immer hungriger auf die Angebote der Schule und auf das, was die Schulleiterin „das Wollen leben“ nennt. Selbst etwas zu wollen, das ist nicht banal. Dafür eine Atmosphäre zu schaffen, das ist die Kernidee der Schule. Auch die anfangs großen Sorgen der Eltern, ihre große Angst, dass man in dieser Schule nicht richtig lerne, verdunstet wie der Morgentau in den Kalkalpen, auf die man von der Schule blickt.

Die Jury des Schulpreises hat sich allerdings mit der unvermeidlichen Begeisterung, die auf Besucher überspringt, nicht zufrieden gegeben, zumal bei den sechs Kriterien des Schulpreises Leistung an erster Stelle steht. Sie hat heraus gefunden, dass die Schüler, wenn sie wieder zurück gekehrt sind, häufig mit dem aufgegeben Stoff weiter sind als die in der Heimatschule. „Obwohl,“ fragt sich Michael Schratz „hier so viel anderes gemacht wird, oder weil...?“ Er kommt ins Grübeln. So geht es auch Katharina Burger-Springwald, die bei der Robert Boch-Stiftung den Schulpreis leitet und die Schule in Oberjoch besucht hat. Sie erinnert an eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung über ein dreiwöchiges Sommercamp für Migrantenkinder in Bremen. Bei den Kindern wurde danach ein Fortschritt in der Sprachkompetenz gemessen, der über dem üblichen Fortschritt eines Schuljahres liegt. Man sprach vom „Wunder in Bremen“. Wer die Wachheit der Schüler im Oberjocher Gasthaus des Lernens erlebt, wundert sich gar nicht mehr. Da sind zum Beispiel Kinder, berichtet Angela Dombrowski, die Schulleiterin, die nach Jahren erneut zur Kur kommen und sich noch an lauter Einzelheiten aus dem Unterricht genau erinnern.

Oder ein Schüler, der kürzlich für zwei Monate in Oberjoch war. Ihm hatte die Mutter vergessen, das Medikament Ritalin mitzugeben.  Als sie es merkte, rief sie schuldbewusst an. Aber sie wurde beruhigt, es ginge ganz gut ohne. Als die Lehrerin ein paar Tage später zurückrief, war die Mutter, wie sie später berichtete, erst verschreckt. Dabei rief die Lehrerin nur an, um zu sagen, wie gut sie mit ihrem Sohn auskomme und welche Formen sie gefunden haben, zum Beispiel, dass er sich nach Phasen der Konzentration und des Sitzens bewegt oder bastelt.  Die Mutter hatte noch nie einen Anruf mit einer positiven Nachricht aus der Schule bekommen. Seine Heimatschule verlangt nun wieder, dass Ritalin genommen werde.

Als sie in der Schule vor mehr als zehn Jahren als Lehrerin anfing, saßen im Lehrerzimmer rechts die Gymnasial- und Realschullehrer und auf der anderen Seite die anderen. „Die kannten nicht mal ihre Vornamen.“ Die Schule war wie ein Nachhilfeinstitut, erinnert sie sich. Das war nicht die „Individualisierung des Lernens“, die sie meint. Das war ein Füttern mit Stoff. Häppchen für Häppchen. Individualisierung des Lernens, die sie meint, heißt, die Schüler sollen sich ihr Wissen aktiv erarbeiten. Sie sollen handeln. Sie sollen auch üben. Sie sollen bis an ihre Grenzen gehen und darüber hinaus wachsen.

Bis an die Grenzen und darüber hinaus wachsen, das macht das Kollegium auch mit sich, gewissermaßen als Selbstversuch. Und das ist das Geheimnis der Schule. Jeden Montagnachmittag sitzen die Pädagogen zusammen. Es sieht aus wie in der Bastelstunde. Der Anschein täuscht. Sie stellen einen großen Teil des Unterrichtsmaterials selbst her.  Sie probieren es aus. Sie planen Fortbildungen. Sie bereiten dabei beiläufig Besuche bei Schulen vor, von denen sie lernen wollen und sie überlegen, wer diesmal fahren darf. Manchmal kommt ein Kind an die Schule, für das eine Lehrerin sich extra eine Fortbildung sucht. Aber von solchen  Schülern, sagen die Lehrer, lernen sie am meisten. So war das auch bei Peter Loesing vor zweieinhalb Jahren. Seine Grundschule in Ostfriesland hatte ihn aufgegeben. Er hatte seit der Geburt schon viele Lungen- und Herzoperationen hinter sich. Er kam bereits in der ersten Klasse nicht mit.  Er war müde. Man ließ ihn im Unterricht schlafen. Er zeichnet bald nur noch schwarze Bilder und erkundigte sich bei seiner Mutter, wo jetzt wohl der Opa lebe, der kürzlich verstorben war. Und dann sagte die Schulleiterin der Mutter, es geht nicht mehr. Ein Psychiater bestätigte die Schulleiterin, die auch Peters Lehrerin war: er werde nie Schreiben, Lesen und Rechnen lernen. Schule hätte für Peter keinen Sinn. Die Mutter fand im Internet den Hinweis auf die Klinik mit der Schule in Oberjoch. Sie erinnert sich noch wie sie im Januar 2008 dort ankam, wie der Lehrer dem Jungen die Hand gab, wie er jeden Tag eine Stunde früher in die Schule kam, um sich auf Peter vorzubereiten. Wie eine Lehrerin nach München zur Fortbildung fuhr, um sich über Mutismus zu informieren und wie Peter, der zuvor fast nicht mehr gesprochen hatte, nach drei Wochen in der Klasse aufstand und rief „ich bin glücklich.“ Als die Kur vorbei war, blieb Dagmar Loesing einfach. Sie jobbte in Oberjoch, denn so viel wirft der Hof zu Hause nicht ab. Es wurde eine lange Geschichte mit Behörden bis Peter einen Internatsplatz als Langzeitschüler bewilligt bekam. Bis dahin behielt die Schulleiterin ihn einfach. Etwas am Rande der Legalität. Aber wozu heißt die Schule denn, übrigens erst seit ein paar Monaten, Sophie-Scholl-Schule, fragt die couragierte Frau? Von solchen Lehrern springt eine ansteckende Gesundheit über.

Nun sind Dagmar Loesing und Peter wieder zu Hause auf dem Hof in Pogum. Peter geht auf eine Regelschule, allerdings eine für Körperbehinderte.  Die Mutter will eine andere, für Peter und eigentlich für alle anderen Kinder. Eine ehemalige Kaserne in Bad Zwischenahn hat sie dafür schon im Auge. Die Energie, die sie brauchen wird, einen Schulträger zu finden, traut man ihr zu. Vielleicht wird ihr das Schulpreisfoto mit Angela Merkel bei der Suche helfen. Peter wurde als Schülervertreter für die Sophie-Scholl-Schule nach Berlin in die St. Elisabeth Kirche geschickt, um dort die Trophäe mit einem Schulstuhl, der Flügel hat, von der Bundeskanzlerin überreicht zu bekommen.

Links:  Homepage der Sophie Scholl Schule  Die Gewinner 2006 + 2007 in der Galerie der Gelungenen Schulen

 Kurzer Film über die Schule beim Deutschen Schulpreis: Sophie-Scholl-Schule

Quelle: http://www.adz-netzwerk.de/Ein-Gasthaus-des-Lernens.php

 
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