Nachhaltiges Lernen

Prof. Schüssler

Prof. Ingeborg Schüssler erläutert ausführlich, wie Lernen wirklich nachhaltig sein kann. Wenn das Gelernte verstanden, im Gedächtnis jederzeit abrufbar und in Zusammenhängen anwendbar ist, dann ist das Lernen nachhaltig wirksam. Damit ist nicht das oberflächliche Lernen für den nächsten Test oder die nächste Klassenarbeit gemeint! Dabei wird klar, dass das übliche Lernen nicht nachhaltig sein kann und wir die Lernbedingungen unserer Kinder entsprechend verändern müssen.

 

 Nachhaltige Lernprozesse

 

Ermöglichungsstrukturen

nachhaltigen Lernens

 

Prof. Dr. Ingeborg Schüssler: PH Ludwigsburg, Institut für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Erwachsenenbildung und Bildungsmanagement

 

Was genau sind die Voraussetzungen und Bedingungen dafür, dass Menschen nachhaltig lernen? Und wie kann dieses Lernen von Pädagoginnen und Pädagogen sinnvoll begleitet und unterstützt werden?

 

Aktuell streiken die Studierenden. Sie fordern mehr Freiheit im Studium, mehr Selbstbestimmung und weniger Druck beim Lernen. Doch das Studium in Modulen, die Berechnung von Workload und Credit Points und die damit einhergehende OutputOrientierung gewähren kaum noch einen interessengeleiteten und individuellen Lernprozess. In diesem Zusammenhang ist von einem «Bulimie-Lernen» die Rede. Damit meinen die Studierenden ein Lernen, bei dem sie den Wissensstoff nur in sich hineinfressen, um ihn nach der Prüfung wieder auszuspucken und damit auch wieder zu vergessen.

Ein solches Lernen, das hier zurecht von den Studierenden kritisiert wird, ist sicherlich nicht nachhaltig, denn es ist ein Lernen, das sich vor allem auf die Bewältigung äusserer Zwänge konzentriert und nicht mehr auf einen wissenswerten Lerngegenstand. Was aber genau sind die Voraussetzungen und Bedingungen dafür, dass Menschen nachhaltig lernen? Und wie kann dieses Lernen von Pädagoginnen und Pädagogen sinnvoll begleitet und unterstützt werden? Der folgende Beitrag geht diesen Fragen nach.

Die Frage der «Nachhaltigkeit von Lernprozessen» wird von vielen Lehrenden deshalb nicht gestellt, weil die Mehrheit der Lernenden zu einem Schul-, Berufs- oder Studienabschluss gelangt. Dieses «Output-Ergebnis» allein scheint bereits ein Indiz für das Lernen zu sein. Allerdings werden die Schulabschlüsse erlangt, indem formale Vorgaben erfüllt und Leistungsbewertungen vorgenommen werden, die weder auf Sinnhaftigkeit noch auf Nachhaltigkeit überprüft werden.

Vom defensiven Lernen … 

Doch dieser «Bildungserfolg» ist meist nur Ausdruck «defensiven» Lernens. Klaus Holzkamp (1993) versteht darunter ein Lernen, bei dem den Betroffenen aufgrund restriktiver Lernbedingungen gar nichts anderes übrig bleibt, als in der gewünschten Weise zu lernen. Aber dieses Lernen ist nicht auf das Eindringen in den Lerngegenstand gerichtet, sondern lediglich darauf, die Lehrenden zur Abwendung von Sanktionen zufrieden zu stellen, d. h. Lernerfolge zu demonstrieren beziehungsweise vorzutäuschen.

Solche Lernbedingungen erzeugen bei den Betroffenen allerdings meist Widerstand oder auch Verweigerung, wobei man dann die «Schuld» für unzulängliches Lernen auf die Betroffenen abwälzt, denen mangelnde Motivation, Begabung, fehlendes Interesse etc. zuschreibt und durch solche Personalisierungen den lernbehindernden Effekt der Lehrinstitution und -strategien von vornherein gegen Kritik und Änderungsintentionen immunisiert (vgl. Holzkamp 1991).

«Menschen, die durch defensive Lernerfahrungen sozialisiert worden sind, verbinden mit dem Lernen zunächst negative Erfahrungen.»

Prof. Dr. Ingeborg Schüssler

 

Ein durch defensives Lernen gekennzeichneter jahrelanger Sozialisationsprozess führt letztlich zu einer lernfeindlichen beziehungsweise lernlähmenden Grundhaltung, welche in immer stärkerem Gegensatz zu dem für die gesellschaftliche Entwicklung notwendigen lebenslangen Lernen und zur deshalb vom Individuum geforderten lebenslangen Lernbereitschaft gerät: Menschen, die durch defensive Lernerfahrungen sozialisiert worden sind, verbinden mit dem Lernen zunächst negative Erfahrungen und Vorstellungen, zumindest die Erwartung, dass das bevorstehende Lernen mit eigenen Fragestellungen und Problemen sowie der Entwicklung ihrer eigenen Handlungskompetenz wenig beziehungsweise überhaupt nichts zu tun hat.

… zum expansiven Lernen

Diesem «defensiven Lernen» steht das «expansive Lernen» gegenüber. Hier kommt die Lernmotivation aus dem Subjekt selbst, hier kann der Lernende Verantwortung für sein Lernen übernehmen. Sein Lernen ist somit kein Lernen um des Lernens willen, sondern er lernt, um durch die Aneignung neuen Wissens die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Ein solches Lernen ist daher auch nachhaltig, weil der Betroffene interessegeleitet lernt, denn hier will er wissen, welche Bedeutungszusammenhänge einer für ihn neuen Sache zugrunde liegen und was ihm der Lerngegenstand nützt. Holzkamp spricht daher auch von einer emotional-motivationalen Begründungsstruktur für das Lernen.

Selbstdistanzierung und Reflexion

Die Lernanforderung ergibt sich somit aus einer für den Lernenden einsehbaren Handlungsanforderung beziehungsweise -problematik. Eine «Handlungsproblematik» wird aber erst dann zu einer «Lernproblematik», wenn es dem Subjekt gelingt, Übersicht und Distanz zu gewinnen, um herauszufinden, wodurch mögliche Schwierigkeiten entstanden sind und auf welche Weise sie lernend überwunden werden können. Für den Lehrenden gilt es, diese Lerngründe, sprich mögliche Handlungsproblematiken, aufzugreifen und daran sein Lernangebot zu orientieren, also solche Lernschleifen zu initiieren, die eine Selbstdistanzierung und Reflexion ermöglichen (vgl. Schüssler 2008).

Irritationen als Auslöser für nachhaltiges Lernen

Voraussetzung für ein expansives und nachhaltiges Lernen ist somit, dass der Lehrende gemeinsam mit dem Lernenden sensibel mögliche vorhandene Handlungsproblematiken aufdeckt oder ein Lernarrangement gestaltet, bei dem der Lernende Grenzen beziehungsweise Störungen seiner routinisierten Handlungsabläufe erlebt. Erst eine solche Irritation beziehungsweise Differenzerfahrung und ihre reflexive Verarbeitung erlauben den Aufbau nachhaltiger Kompetenzen. Wichtig dabei ist, dass der Lernende sich seiner eingelebten Deutungs-, Handlungs- und Emotionsmuster bewusst wird, auf denen die alltäglichen Handlungen ruhen. Erst eine Einsicht in die eigenen basalen Strukturen erlaubt die Weiterentwicklung der eingelebten Wissens- und Handlungsmuster und damit auch eine Offenheit gegenüber neuen oder alternativen Wissensangeboten (vgl. Schüssler 2008).

"Lernmotivierend wirkt aber nicht nur ein Differenzerleben, sondern auch der Grad an Autonomie und Selbstbestimmung."

Prof. Dr. Ingeborg Schüssler

 

Im Konstruktivismus ist hier auch von «Perturbation» die Rede (vgl. v. Glasersfeld 1996). Die Erfahrung einer Perturbation zeigt somit an, dass ein begriffliches Schema unter bestimmten Erfahrungsumständen nicht erfolgreich funktioniert hat und gegebenenfalls weiterentwickelt werden muss, um wieder Kohärenz herzustellen. Das Bemühen des Betroffenen um die Herstellung einer begrifflichen, emotionalen oder auch biographischen Kohärenz ist somit treibende Kraft beim nachhaltigen Lernen.

Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung

Dieser Aspekt wird auch durch die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993) bestätigt. Danach wird die Motivation zentral davon beeinflusst, inwieweit Individuen ihr psychologisches Bedürfnis nach Kompetenz oder Wirksamkeit, Autonomie oder Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit beziehungsweise soziale Zugehörigkeit befriedigen können. Vor allem das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung bewirkt, die eigenen Kompetenzen weiterentwickeln zu wollen. Nach Lave & Wenger (1991) ist es dann auch die Praxisgemeinschaft, die den Wunsch nach Teilhabe sowie die Bereitschaft begründet, sich die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erschliessen, um erfolgreich in der Gemeinschaft zu agieren. Lernen ist somit nachhaltig, wenn es die Teilhabe am sozialen Leben (in einer spezifischen Gemeinschaft) sichert. Der Lerngegenstand und die zu entwickelnde Expertise sind dann Mittel zum Zweck.

Die Lernmotivation lässt sich aber nicht nur über zweckzentrierte Anreize bestimmen. Gründe liegen nämlich auch darin, ob eine Person Freude an der Beschäftigung mit einer Sache erlebt, und hier spielen dann wieder emotionale Faktoren eine Rolle (vgl. Arnold 2005, 2009), die zeigen, dass auch der Gestaltung einer entwicklungsförderlichen Lernkultur und -atmosphäre eine besondere Rolle zukommt (vgl. Schüssler/Thurnes 2005; Schüssler/vom Hövel 2006).

Ermöglichungsdidaktisches Lernsetting

Der Lehrende sollte zur Förderung nachhaltiger Lernprozesse eine Grundhaltung entwickeln, die der Tatsache Rechnung trägt, dass sich Lernen nicht erzeugen, sondern nur ermöglichen und unterstützen lässt. Lehrende müssen zwar nach wie vor in «ihrem» Fach zuhause sein, doch dürfen sie ihr Fachwissen nicht mehr nur präsentieren. Es kommt vielmehr darauf an, dieses Fachwissen, «erschliessungsstrukturiert» zugänglich zu machen. Dies bedeutet, dass sie sich nicht mehr damit zufrieden geben können, fachliche Zusammenhänge und Einsichten für die Lernenden – gewissermassen «stellvertretend» – zu erschliessen. Sie müssen vielmehr darum bemüht sein, Lernthemen und Handlungsproblematiken der Lernenden zu identifizieren, sie in bearbeitbare Aufgabenstellungen zu überführen und die Lernenden in der Arbeit an ihren Lernprojekten zu unterstützen, wobei sie das Wissen situativ, d. h. in Abhängigkeit der Fragestellungen der Lernenden, zur Verfügung stellen (vgl. Simmons 1992).

Dabei sollten sie zugleich die Selbsterschliessung sowie die aktive Aneignung durch die Lernenden selbst anbahnen, anregen und unterstützen. Ihr eigenes Lehrhandeln ist demgegenüber «subsidiär»; es folgt dem selbstgesteuerten Lernen der Teilnehmenden, begleitet und ergänzt dieses. Der Lernprozess hat somit eine ermöglichungsdidaktische Struktur (vgl. Arnold/Schüssler 2003, Arnold/Gómez Tutor 2007), dem zusammenfassend folgende Prinzipien zugrunde liegen:

 

Prinzipien einer Ermöglichungsdidaktik (Schüssler 2007, S. 329 f.)
Didaktische PrinzipienDidaktische Anforderungen an die LernprozessbegleitungDidaktische Anforderungen an die Lernenden
Eigenverantwortung Die Eigenständigkeit der Lernenden zulassen durch aktive Partizipation in didaktischen Entscheidungen Zunehmende Selbststeuerung und Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess (Entwicklung von Selbstlernkompetenzen)
Rückkopplung Rückkopplungsmöglichkeiten, z. B. über Metakommunikation, Feedback-Verfahren anregen Bereitschaft zur Offenlegung der eigenen Wirklichkeitskonstruktion (Gedanken, Vorurteile, Ängste etc.)
Multiple Perspektiven Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, durch z. B. Perspektivenwechsel Neugierde, Offenheit und Flexibilität im Denken und Handeln
Öffnung des Lehr-/Lernprozesses Offenheit gegenüber neuen Methoden, neuen Lernorten, neuen Kooperationen mit anderen Lehrenden und Lernenden etc. Öffnung nach innen: sich auf neue Erfahrungen einlassen können, Experimentierfreude und Unvoreingenommenheit; Öffnung nach aussen: z. B. Kontakte zu anderen Lernprojekten suchen
Gelassenheit Gelassenheit gegenüber der Eigenwilligkeit der Lernenden und pädagogischer Takt im Umgang mit persönlichen Erfahrungsschilderungen und Konflikten Dem Lehrenden beziehungsweise Lernprozessbegleiter ehrliches Feedback geben und eigene Bedürfnisse artikulieren können
Lebensweltbezug Bezug zur Lebenswelt und zum Alltag der Lernenden auch im Lehr-Lernprozess über Situations- und Prozessorientierung Sich eigene Handlungsprobleme und Schwierigkeiten im Alltag eingestehen können
Irritationen Differenzerfahrungen behutsam anbieten Sich auf Neues einlassen können, ohne darauf mit Abwehr zu reagieren
Coaching Den Lernenden Coach, Berater und Lernbegleiter sein Den anderen Einblick in die eigene Lebenswirklichkeit gewähren
Handlungsorientierung Den Lernenden vielfältige Erprobungsmöglichkeiten anbieten und Aktion vor Reflexion setzen Eigene Handlungsressourcen aktiv nutzen und sich trauen, neue Fähigkeiten im geschützten Raum zu erproben
Emotionalität Seine eigene Rolle als «Lehrender» (und damit verbundene Gefühle) vor dem Hintergrund des eigenen Gewordenseins reflektieren, positive Lernatmosphäre gestalten Sich der eigenen Gefühle bewusst werden und bereit sein, diese zu veröffentlichen und gemäss ihrer Situationsangemessenheit kritisch zu hinterfragen
Nachhaltigkeit Die möglichen Wirkungen des eigenen Handelns und seine pädagogischen Ansprüche reflektieren Das eigene Handeln als gestaltbar und veränderbar, aber auch verantwortbar begreifen und daraus für sich eigene Lernanforderungen ableiten

 

Aktive Partizipationsmöglichkeiten

Ein solches ermöglichungsdidaktisches Lernsetting setzt voraus, Teilnehmende aktiv in die Planung und Gestaltung des Lernprozesses zu integrieren. Der Lehrende muss sich somit nicht nur die Frage stellen, in welchen Phasen und in welcher Form er Partizipationsmöglichkeiten anbieten kann (z. B. über einen Lehr-/Lernkontrakt oder durch unterschiedliche Feedback- und Evaluationsverfahren), sondern auch wie er die Lernenden zur aktiven Partizipation befähigen kann (z. B. durch die Stärkung methodischer und kommunikativer Kompetenzen).

So konnten Untersuchungen zeigen, dass das Lernverhalten – also die Einstellung zum Lernen, das Selbstwertgefühl, die Strategien zur Tiefenverarbeitung des Gelernten, die Reflexion und Evaluation des Lernprozesses – und somit die Nachhaltigkeit des Lernens vom Grad der Selbstlernkompetenz beeinflusst wird (vgl. Arnold/Gómez Tutor/Kammerer 2002). Damit muss noch mehr der Blick auf solche Faktoren gelenkt werden, die den Erwerb von Selbstlernkompetenz fördern oder behindern – denn nachhaltig gelernt wird auch dadurch, dass die Lernenden selbstständig ihre eigenen Lernprojekte über organisierte Massnahmen hinaus weiterverfolgen können, sprich auch in der Lage sind, informell und lebensbreit zu lernen.

 
 
Quelle:  http://profil-l.net/2010-01-nachhall/ermoeglichungsstrukturen-nachhaltigen-lernens
von profil-L online aus der Schweiz mit sehr empfehlenswerten Inhalten zum Lernen!