Von Selektion zur Inklusion

2. Von der Selektion zur Inklusion:

Begabtenförderung durch Nutzung von Vielfalt

Mag sein, dass Bos mit seiner resignativen Schlussfolgerung, das Gymnasium sei in Deutschland nicht abzuschaffen, Recht hat. Doch vielleicht löst sich das Problem auf eine ganz andere, evolutionäre Weise. In manchen Großstädten ist das Gymnasium schon längst zur „Hauptschule geworden, weil die Mehrzahl der Eltern dafür sorgt, dass ihre Kinder dort aufgenommen werden falls sie nicht - wie in Bayern durch eine rigide Zulassungsbarriere mit dem Notenschnitt 2,0 – darin gehindert werden. Auf der anderen Seite wachsen der Druck und auch die Bereitschaft von immer mehr Bundesländern - ungeachtet unterschiedlicher politischer Konstellationen (Hamburg, Berlin, Saarland etc.) -, den Zeitraum des gemeinsamen Lernens auszuweiten.

Angetrieben wird diese Entwicklung nicht nur vom Elternwillen, und den hohen Kosten bei zurückgehenden Schülerzahlen aufgrund des demographischen Wandels, sondern auch durch die veränderten Anforderungen der sich entwickelnden globalisierten Wissensgesellschaft. Nicht jeder wird so weit gehen wie der Kulturgeograph Richard Florida, der in seinem Buch „The Rising of the Creative Class“ (2002) behauptet, dass eine neue Klasse auftaucht, die schon bald die Gesellschaft beherrschen wird: In den USA seien bereits bis zu einem Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung mit der Herstellung und Nutzung von Neuem befasst. Die „Kreative Klasse“ bevorzuge Regionen, die sich durch die Faktoren Technologie, Talent und Toleranz auszeichnen.

Eine neue Studie (Jansen 2009) zeigt nun, dass Deutschland aufgrund seines Bildungssystems in den Bereichen Talent- und Toleranzförderung im internationalen Vergleich einen der hinteren Plätze einnimmt, was neben anderem auch dazu führt, dass wir seit 2001 eine negative Abwanderungsbilanz von „Kreativen“ und „High Potentials“ haben. Auch was die Zahl der Studienanfänger betrifft, die bei 36% liegt und lediglich in eine Absolventenquote von 21% mündet, liegt Deutschland weit hinten. Im OECD Durchschnitt schließen derzeit 37% ihr Studium erfolgreich ab. Geradezu anachronistisch wirkt da das deutsche Bildungsmusterland Bayern, das mit einer Absolventenzahl von nur 20% Abiturienten international gesehen um den Spitzenplatz als Schlusslicht zu kämpfen scheint.

Umfassende Begabungsförderung für alle tut also Not, nicht nur um die Grundlagen unseres Wohlstandes zu sichern, sondern auch, um das grundgesetzlich verankerte Bürgerrecht auf Bildung durchzusetzen – das Ralf Dahrendorf schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingefordert hatte. Wurde in der Industriegesellschaft alten Typs Wohlstand vor allem durch die intensive Nutzung von Material und dessen Verarbeitung in uniformer Massenproduktion erzielt, so stellt die globalisierte Wissensgesellschaft völlig neue Anforderungen: Die Anwendung von Wissen und dessen Übersetzung in individualisierte Produkte wird zum Schlüssel. Statt für alle zur gleichen Zeit das Gleiche, geht es jetzt darum für jeden das zu bieten, was seinen spezifischen Bedürfnissen und Begabungen entspricht. Dieser Paradigmenwechsel von der Massenproduktion zur individualisierten, wissensbasierten Produktion setzt auch ein neues Bildungsverständnis voraus.

Wie Lehner & Widmaier schon 1992 gezeigt haben, folgt die traditionelle Schule in ihrer Form als selektierende Unterrichts- und Belehrungsanstalt dem Paradigma der Fließbandproduktion: Die Schüler/innen werden nach Alterskohorten sortiert, nach einem standardisierten Lehrprogramm im 45-Minutentakt unterrichtet, rücken jahrgangsmäßig vor, wobei der „Ausschuss“ aussortiert wird.

Wem diese zugespitzte Darstellung überzogen scheint, weil sie den gewandelten Alltag vieler Reformschulen nicht trifft, dem ist entgegenzuhalten, dass ein zu großer Teil öffentlicher deutscher Schulen noch immer nach diesem Modell funktioniert. So hat, um ein weiteres Beispiel zu geben, Klaus Klemm gerade erst (2009) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung gezeigt, dass pro Jahr immer noch ca. 250 000 Schüler/innen eine Klassenstufe wiederholen müssen, was dazu führt, dass ca. 23% aller Schüler das Wiederholerschicksal teilen und dies – obwohl durch eine Vielzahl von Studien schon seit 1974 immer wieder belegt wird, dass diese Maßnahme nicht nur die Schüler nicht fördert, sondern schädigt, indem sie ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen beeinträchtigt. Nimmt man noch die zurückgestellten Schüler/innen hinzu, dann sind ca. ein Drittel aller 15-jährigen Jungen überaltert und durch das Selektionssystem behindert. Die pädagogisch wirkungs- und sinnlose Maßnahme des Sitzenbleibens kostet den Staat laut Klemm eine Milliarde Euro – pro Jahr! Diese Summe könnte man im Falle ihrer Abschaffung sofort in ein breitenwirksames Programm der individuellen Förderung investieren – ohne dass es den Staat eine Cent mehr kosten würde. Doch deutsche Bildungspolitiker beharren auch hier auf ihrem negativen Spitzenplatz – in keinem Land der Welt gibt es solche Wiederholerquoten.