Begabtenförderung und Resignation

 

1. Begabtenförderung:

Überraschende Einsichten der empirischen Bildungsforschung

 

Nachdem Hochbegabtenförderung lange Jahre vernachlässigt wurde und unter dem Stigma einseitiger Elitenförderung zu leiden hatte, zeichnet sich seit einiger Zeit ein neuer Trend ab: Im Zusammenhang mit der Herausarbeitung von Schwachpunkten des deutschen Schulsystems aufgrund internationaler Schulleistungsvergleichsstudien setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein Schulsystem, das einseitig auf Selektion durch frühe Trennung nach vermeintlichen Begabungsstufen setzt, ungeeignet ist, die optimale Förderung aller Schüler zu gewährleisten.

 

Verschiedene Studien haben übereinstimmend gezeigt, dass ein Großteil der Übergangsempfehlungen von Grundschullehrern/innen fehlerhaft sind: So hatte – um ein Beispiel zu geben – noch vor kurzem das Kind einer türkischen Putzfrau in Baden-Württemberg eine 4,7 mal geringere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, als das deutsche Kind und das bei gleicher Leistung! Noch schlimmer liegen nach Erkenntnissen des renommierten Bildungsforschers Klaus Klemm die Dinge im vermeintlichen Bildungsmusterland Bayern: Hier hatte das Migrantenkind eine 6,3 mal geringere Chance. Dass die deutsche Idee des Sortierens von Schüler/innen nach der vierten Klasse nicht funktioniert zeigt auch eine neue Studie, die die Soziologin Heike Solga vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung vorgenommen hat und deren Kernaussage Spiegel online am 26.8.2009 wie folgt betitelt: „Bildungs-Ungerechtigkeit. Jedes dritte Kind geht auf die falsche Schule.“ Demnach besuchen 17 Prozent einen Schultyp unterhalb ihres Leistungsniveaus (Underachievement in der Sprache der Begabungsforscher), weitere 13 Prozent eine Schule oberhalb ihres Potenzials (Overachievement).

 Die Schlussfolgerung der Forscher ist eindeutig: das deutsche Schulsystem versagt in der Förderung. Die Lösung: Kinder müssten länger gemeinsam lernen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, doch aufgrund der anachronistischen deutschen Bildungskleinstaaterei und den damit verbundenen ideologischen Scheuklappen haben es selbst ausgewiesene Bildungsforscher schwer, mit ihren Argumenten durchzudringen. In einem Interview des Spiegel (2009, 20, S.58-59) mit dem Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung sowie Autors zahlreicher Schulleitungsvergleichsstudien, Wilfried Bos, wurde deutlich, dass in der Frage der geeigneten Schulstruktur für optimale Begabtenförderung statt Fachkenntnis Ideologie regiert. So antwortete Bos auf die Frage, ob es angesichts der vergleichsweise guten Leistungen deutscher Schüler/innen, die sich in den Grundschulstudien gezeigt haben, nicht sinnvoll sei, Schüler/innen länger gemeinsam lernen zu lassen. Bos fasst zusammen:

„Trotz guter Iglu-Ergebnisse wissen wir, dass die Hälfte der Kinder in der fünften Klasse nicht selbständig neues Wissen anhand von Texten erarbeiten kann. Ihre Lesekompetenz reicht nicht aus. Wir brauchen für diese Kinder noch echten Lese-Unterricht, und zwar fachübergreifend - vor allem für jene mit Migrationshintergrund und aus unteren sozialen Schichten.“

Da die Studie gute Leistungen der Schüler/innen in der Grundschule belegt, stellt der Interviewer die logische Frage: „Sollten Kinder dann nicht länger gemeinsam lernen?“ Doch statt zuzustimmen gibt Bos zunächst eine Antwort, die das spezialistisch verengte Denken, das für viele empirische Bildungsforscher derzeit typisch ist, sichtbar macht: „Mit dieser Frage habe ich Probleme. Das wäre so, als würde man sagen: Bei Vollmond angepflanzter Mais wächst einen Meter höher. Es ist weder bewiesen noch unbewiesen.“

Ungerührt wiederholt der Interviewer die Frage nach dem Nutzen längeren gemeinsamen Lernens und seine Beharrlichkeit zahlt sich aus. Denn nun weiß Bos: „95 Prozent aller Länder verfahren nach dem 6-3-3-Prinzip: Sechs Jahre Grundschule, drei weitere Jahre gemeinsames Lernen in einer weiterführenden Schule oder Stufe, dann wird für die letzten drei Jahre aufgeteilt in Berufsausbildung und Sekundarstufe zwei.“

Ein klare Aussage gegen das gegliederte Schulsystem sollte man meinen, doch auf die Frage, ob das Vorgehen von 95% aller Länder weltweit gerechter sei, zieht sich Bos zunächst erneut zurück, um dann im zweiten Schritt zu offenbaren, worum es wirklich geht: „Nicht zwingend. Mein Kollege, der Bildungsforscher Helmut Fend, hat ja kürzlich erst nachgewiesen, dass sich in Gesamtschulen die Koppelung von sozioökonomischen Status der Eltern und die Schülerleistungen ebenfalls deutlich abzeichnet. Außerdem haben wir in Deutschland eine ständestaatliche Tradition mit einer Schulform, die ziemlich gut funktioniert und die niemand abschaffen können wird: das Gymnasium.“

Argument 1, die mangelnde Leistung von Gesamtschulen, sticht nicht, denn es ist ein weiteres Argument für den Abschied vom selektierenden deutschen Schulsystems, haben doch Studien nachgewiesen, dass Gesamtschulen unter den Bedingungen eines gegliederten Schulsystems nur eingeschränkt funktionieren – vor allem weil die Abwanderung zum Gymnasium zu einer ungünstigen Schülermischung führt.

Der Spiegel lässt denn auch nicht locker und hinterfragt das Argument 2 : „Und weil das Gymnasium sakrosankt ist, wird sich nie grundlegend etwas ändern?“

Auch hier ist die Antwort des Bildungsforschers aufschlussreich, zeigt sie doch exemplarisch die Kapitulation von Teilen der Erziehungswissenschaft vor den Ansprüchen einer Politik, die schließlich die Studien bezahlt: „Jedenfalls nicht am Gymnasium. Alle Eltern, die etwas zu sagen haben, die kampagnenfähig sind, schicken ihre Kinder aufs Gymnasium – die werden den Teufel tun, diese Schulform abzuschaffen. Die Diskussion ist schlicht müßig.“

Hiermit könnten wir die Debatte beenden, doch der Spiegel fragt weiter: „Also resignieren Sie?“ Erst diese Hartnäckigkeit ermöglicht es, das Denkgebäude des fachzentriert argumentierenden Bildungsforschers zu erschüttern und die Erkenntnis zu offenbaren, dass es uns nicht an weiteren Studien fehlt, sondern an der Nutzung unseres Verstandes:

„Keineswegs“, antwortet nämlich Bos, „ich halte das bisherige System für ungerecht. Das sagen mir aber weniger die Iglu- oder die Pisa-Studie, das sagt mir vielmehr der gesunde Menschenverstand. Warum tun wir zehnjährigen Kindern den Stress an, sie mindestens ein halbes Jahr lang für den Schulwechsel zu drillen? Und warum lassen wir die Hauptschüler dumm in der Ecke stehen? Nur: Es wird nicht gelingen, das Gymnasium abzuschaffen. Wer das versucht, wird nicht wieder gewählt.“

Halten wir fest: Wenn es um optimale Begabungsförderung geht, benötigen wir – ähnlich wie die erdrückende Mehrzahl der Länder auf dieser Welt – ein Bildungssystem, das statt auf Selektion auf Förderung setzt, denn: „Maurer oder Manager, das zeichnet sich bereits mit dem Ende der Grundschule ab“, sagt Wilfried Bos.

In seiner aktuellen Studie hat er festgehalten: Die Wahl ist „eine wichtige Weichenstellung für den weiteren Schul- und Berufsweg, da spätere Korrekturen dieser Entscheidung ausgesprochen selten sind.“