Die homodoxe Antwort

 

Die homodoxe Antwort: Der Glaube an Gleichheit

 

In der inklusiven Pädagogik ist die Anpassung der Schule an die Schüler Programm. Der Schüler ist gleichsam die Konstante, die Schule die Variable. Die Gegenreden aus dem Lager der separierenden Pädagogik folgen genau der entgegengesetzten Programmatik. Es gibt ein feststehendes System von Schulformen, in das die verschiedenen Schüler einsortiert werden müssen. Für die „begabungsgerechte“ Schule werden die passenden Schüler gesucht. Das System Schule steht unveränderlich fest, die zu lösende Aufgabe ist die Auswahl („Selektion“) der richtigen Schüler. Diese homodoxe Philosophie von ein- und unterteilenden Schulsystemen sei in ihren Grundzügen kurz erläutert.

Verfechter und Widersacher inklusiver Bildung unterscheiden sich fundamental in der Wertschätzung von Heterogenität und Homogenität. Inklusive Bildung versteht sich als Pädagogik der Vielfalt; sie ist überzeugt von dem Nutzen und der Fruchtbarkeit von heterogenen Lerngruppen. Für den Gegenspieler ist dagegen Homogenität die grundlegende Voraussetzung und zugleich optimale Bedingung für erfolgreiches Lehren und Lernen. Dieses grundlegende Axiom exkludierender Bildung wird hier mit dem Begriff homodox umschrieben. Die Neuschöpfung wurde analog zum Begriff orthodox geprägt: Orthodox heißt rechtgläubig, homodox meint entsprechend gleichgläubig. Im Zentrum der homodoxen Pädagogik steht die Gleichheitsbedingung, der Glaube an Homogenität. Die Schüler einer Lerngruppe sollten in ihren Lernvoraussetzungen, -möglichkeiten und -bedürfnissen möglichst gleich sein. Allein Homogenität gewährleistet optimale schulische Lernprozesse – das ist der Lehrsatz der homogenitätsgläubigen Philosophie. Den traditionellen Glauben an den Vorteil homogener Gruppen beschreibt die „Württembergische Schulordnung“ aus dem Jahre 1559 so:

„So dann der Schulmeister die Schulkinder mit Nutz lehren will, so soll er sie in drei Häuflein einteilen. Das eine, darinnen diejenigen gesetzet, so erst anfangen zu buchstabieren. Das andere die, so anfangen die Syllaben zusammenzuschlagen. Das dritte, welche anfangen zu lesen und zu schreiben.

Desgleichen soll er in jedem Häuflein besondere Rotten machen, damit diejenigen, so einander in jedem Häuflein am gleichsten sind, zusammensitzen; dadurch wird dem Schulmeister die Arbeit geringert.“

Aus der Gleichheitsbedingung als oberstem Grundsatz der homodoxen Pädagogik folgt der Imperativ der Gliederung aller Schüler in möglichst gleiche Gruppen: Je gleicher, desto besser. Im Bildungssystem als Ganzem erfolgt die Aufteilung der Schüler in mindestens vier hierarchische Stufen: Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule. Nach der interschulischen Grobeinteilung in verschiedene Schulformen wird dann eine intraschulische Untergliederung in homogene Jahrgangsklassen vorgenommen. Und wenn die Heterogenität innerhalb eines Subsystems als grenzwertig empfunden wird, werden im eigenen Hause noch einmal A-B-C-Gruppen gebildet.

Die Stratifizierung der Schülerinnen und Schüler durch das homodoxe Schulsystem misslingt in großem Maßstab. Zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Gleichheit muss fortwährend nachgesteuert und korrigiert werden. Zehn Prozent aller Schulanfänger werden bei Schulbeginn als „schulunreif“ klassifiziert und zurückgewiesen. 40000 Schüler erreichen Jahr für Jahr nicht das Klassenziel. Jeder vierte Schüler hat im Laufe der Schulzeit wenigstens eine „Ehrenrunde“ gedreht, musste also eine Klasse wiederholen. 15 Prozent aller Schüler werden alljährlich aus höheren Schulen in niedere Schulen abgestuft. Innerhalb und außerhalb der Schule bemühen sich Liftkurse und ein exorbitanter Nachhilfemarkt darum, dass die Schwachen nicht aus den jeweiligen Subsystemen herausfallen und wieder mithalten können. Die homodoxe Pädagogik lässt sich aber von derlei Pannen und Fehlleistungen der Gliederungs- und Exklusionsmaschinerie nicht beeindrucken und setzt das Werk des Sortierens unverdrossen fort.

Auf der Unterrichtsebene ist das Idealbild einer homodoxen Didaktik der gleichschrittige Frontalunterricht. Der homodoxe Lehrer verlässt sich auf die Gleichheitsgarantie des Systems und geht folglich von einer prinzipiellen Homogenität der Schüler aus. Die gleichen Schüler erhalten den gleichen Unterricht mit den gleichen Zielen, den gleichen Inhalten und den gleichen Methoden. Sofern vorübergehend sogenannte Maßnahmen der inneren Differenzierung zum Zuge kommen, dienen sie nicht der Anpassung des Unterrichts an die Schüler, sondern umgekehrt der Anpassung der ungleichen Abweichler an den fiktiven Standard. Individualisierung hat paradoxerweise De-Individualisierung, die „Normalisierung“ der ungleichen Schüler zum Zweck, damit sie wieder im Gleichschritt mitmarschieren können.

Die Gleichheitsbedingung der homodoxen Pädagogik führt konsequenterweise dazu, dass alle Schüler mit Behinderungen nicht nur aus dem allgemeinen Bildungssystem für „normale“ Schüler herausfallen, sondern innerhalb des Sondersystems noch einmal kategorial aufgeteilt werden in unterschiedliche Behinderungsarten. Damit nicht genug. Innerhalb der Sonderschulen hat das Homogenisieren immer noch kein Ende, sondern dort werden noch einmal „normal“ behinderte Schüler von schwerstbehinderten Schülern unterschieden und dann jeweils in separaten Klassen zusammengefasst.

Wenn die Bildungslandschaft erst einmal parzelliert und das gesamte Schülervolk auf die Kleinstaaten verteilt ist, beginnen die Bildungsprovinzen ein Eigenleben zu entfalten. Sie konstruieren vorab eine Sonderanthropologie des Schülers. Die monodoxe Schülertypologie weiß genau, was ein typischer Gymnasiast, ein typischer Realschüler, ein typischer Hauptschüler und ein typischer Sonderschüler ist. Zu diesen Bildern von typischen Schülern werden in einem zweiten Schritt dann als Rahmungen passgenaue, schülertypische Sonderpädagogiken erfunden. Die Pädagogik der Realschule etwa hat insbesondere darzulegen, dass der typische Realschüler ein ganz anderer und unvergleichlicher Schüler ist, dem nur eine maßgeschneiderte, spezielle Realschulpädagogik zu entsprechen imstande ist. Die Sonderpädagogik ist in der Konstruktion „spezieller“ Pädagogiken besonders erfinderisch und behauptet, dass es für alle „Störungsbilder“ deutlich unterscheidbare differentielle Pädagogiken und Didaktiken gäbe.

Das gegliederte System als Ganzes pflegt das Phantom der begabungsgerechten Schule. Dabei ist die begabungsgerechte Schule von der empirischen Forschung längst als Ideologie demaskiert worden; die vermeintlichen Begabungstypen gibt es nicht, sie sind ein mittlerweile historisches Relikt der Ständegesellschaft. Der „gute“ Hauptschüler ist dem „befriedigenden“ Realschüler durchaus ebenbürtig und schafft auch ein mindestens „ausreichendes“ Abitur. Und zwischen Sonderschülern „Lernen“ und Hauptschülern gibt es breite Überlappungen, aber keinen cut off point , der eine klare Trennung der Gruppen erlaubte. Das letzte Glied in der Besonderung der Schulen, der Anthropologien, der Pädagogiken ist dann die besondere Professionalität der Lehrer, die sich in einer eigenständigen Lehreraus- und -fortbildung sowie in streng abgegrenzten Standesverbänden abbildet.

Das homodoxe Prinzip ist im bundesdeutschen Bildungswesen allgegenwärtig, bestimmend und von einer durchdringenden Wirksamkeit. Gegen diese Allmacht der Homodoxie tritt inklusive Pädagogik an. Es ist ein Kampf von David gegen Goliath. Dabei findet sich die Lehre der homodoxen Pädagogik eigentlich in keinem Lehrbuch der Pädagogik. Homodoxe Pädagogik ist keine ausgearbeitete wissenschaftliche Theorie, sondern gleicht einem ungeschriebenen Gesetz. Obwohl weder explizit ausformuliert noch rational begründet noch empirisch validiert, gilt die homodoxe Doktrin umso mehr.

Kein anderes Regulativ ist für die Strukturierung von Lernprozessen so universal, so dominant und so wirkmächtig wie das homodoxe Grundgesetz, das Gesetz der Gleichheit.